Werbezutritt für Gewerkschaften nach Art. 9 Abs. 3 GG

Der Erste Senat hatte sich im Urteil vom 22. Juni 2010 (- 1 AZR 179/09 -) mit dem Zutrittsrecht betriebsfremder Gewerkschaftsbeauftragter zum Zwecke der Mitgliederwerbung zu befassen. Der Senat hat seine bisherige Rechtsprechung bestätigt, wonach ein solches Zutrittsrecht nicht ausdrücklich geregelt ist (vgl. BAG 28. Februar 2006 – 1 AZR 460/06 -). § 13 des allgemeinverbindlichen Bundesrahmentarifvertrags für das Baugewerbe gewährt der Gewerkschaft nur ein arbeitsschutzrechtlich bezogenes Zutrittsrecht. Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens Nr. 135 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 23. Juni 1971 betrifft lediglich betriebsangehörige Arbeitnehmervertreter.

Auch Art. 51 Abs. 2 Satz 2 der Verfassung des Landes Brandenburg begründet nicht selbst einen Anspruch. Grundlage für das betriebliche Zutrittsrecht der Gewerkschaften zu Werbezwecken ist vielmehr die richterrechtliche Ausgestaltung der durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Koalitionsbetätigungsfreiheit (vgl. dazu BAG 28. Februar 2006 – 1 AZR 460/06 -). Danach richtet es sich nach den Umständen des Einzelfalls, ob der von der Gewerkschaft jeweils konkret begehrte Zutritt zu gewähren ist. Dabei ist zwischen der betroffenen Grundrechtsposition der Gewerkschaft aus Art. 9 Abs. 3 GG und den durch Art. 12 Abs. 1, Art. 13 und 14 Abs. 1 GG geschützten gegenläufigen Interessen des Arbeitgebers eine praktische Konkordanz herzustellen. Dies erfordert die Berücksichtigung typischer und vorhersehbarer betrieblicher Belange des Arbeitgebers bereits im Erkenntnisverfahren. Hierzu gehört insbesondere der von der Häufigkeit und der Dauer des Zutrittsbegehrens abhängige organisatorische Aufwand, der im Einzelfall betrieben werden muss, um Störungen des Betriebsfriedens und des Betriebsablaufs zu verhindern. Die auf beiden Seiten betroffenen Belange sind typischerweise gewahrt, wenn sich die Häufigkeit des begehrten Zutritts an der gesetzlichen Wertung des § 43 Abs. 4 BetrVG orientiert und eine angemessene Ankündigungsfrist von in der Regel einer Woche eingehalten wird. Verlangt die Gewerkschaft hingegen mehr als einmal im Kalenderhalbjahr Zutritt, hat sie die Notwendigkeit weiterer betrieblicher Werbemaßnahmen im Einzelnen aufzuzeigen.

Dem Arbeitnehmer steht nach einer Entscheidung des Ersten Senats vom 13. August 2010 (- 1 AZR 173/09 -) kein Anspruch auf unbezahlte Freistellung von der Arbeitspflicht zur Teilnahme an Sitzungen des Ortsvorstands einer Gewerkschaft zu. Zwar stellt die Teilnahme an den Sitzungen eine durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte koalitionsspezifische Betätigung dar. Jedoch hat der Arbeitnehmer mit Abschluss des Arbeitsvertrags und den damit eingegangenen Bindungen in zulässiger Weise über seine Grundrechtspositionen verfügt. Die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit ist deshalb für sich betrachtet keine unzulässige Abrede iSd. Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG. Auch aus der vertraglichen Rücksichtnahmepflicht nach § 241 Abs. 2 BGB ergibt sich kein genereller Freistellungsanspruch. Das Interesse des Arbeitgebers an der Einhaltung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit geht dem grundsätzlich vor. Da im Streitfall der Sitzungsbeginn regelmäßig zu einer Kollision mit bestehenden Arbeitspflichten Vollzeitbeschäftigter führte und die Verlegung der Sitzung auf einen späteren Zeitpunkt nicht unmög-
lich war, bestand auch kein Leistungsverweigerungsrecht der betroffenen Arbeitnehmerin nach § 275 Abs. 3 BGB. Der Arbeitgeber ist jedoch gehalten, im Fall eines Schichtdienstes der Arbeitnehmerin ihren Wunsch an einer Sitzungsteilnahme bei der Einteilung der Schichten zu berücksichtigen.

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